Émile MAYRISCH (1862-1928)
Charles Barthel
Der als Gründer der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (IRG) in die Geschichtsbücher eingegangene Luxemburger Industrielle Émile Mayrisch stammt aus einer wohlhabenden bürgerlichen Familie, in der wirtschaftliche und politische Macht eng miteinander verknüpft waren. Sein Vater Édouard war ein angesehener Arzt; er vererbte seinem Sohn jene philanthropische Ader die Émile zeitlebens beachtliche Summen für zahllose Werke mit sozialem oder karitativem Hintergrund ausgeben ließ. Über seine Mutter Mathilde Metz war er verwandt mit einer der bedeutendsten Hüttenbesitzer- und Abgeordnetendynastien des damaligen Großherzogtums. Hier liegt auch der Grund warum der junge Mann nach dem Abbruch seines Ingenieurstudiums an der RWTH-Aachen dennoch bei der Düdelinger Hochofen-Gesellschaft Karriere machen konnte. Bereits nach wenigen Jahren stieg er – trotz fehlendem Diplom – zum Werksdirektor auf! In dieser Eigenschaft spielte er 1911 eine entscheidende Rolle beim Zusammenschluss der Aciéries réunies de Burbach-Eich-Dudelange (Arbed). Mayrisch besetzte daraufhin den Posten des hauptverantwortlichen Konzernlenkers für technische Fragen bevor er, nach dem Ersten Weltkrieg, zum Präsidenten der Generaldirektion befördert wurde.
In der Zwischenzeit war es der multinationalen, aus luxemburgischem, belgischem und französischen Kapital erwachsenen Hüttengesellschaft gelungen ihren Industriebesitz abzurunden. Um die Mitte der Zwanzigerjahre besaß das Unternehmen Erzkonzessionen, Stahlwerke und andere Fabriken im Großherzogtum, in Lothringen und an der Saar, in Deutschland, in Belgien und auch anderswo in der Welt; Mayrisch regierte über ein kosmopolitisches Industrieimperium das immerhin um die 70.000 Mitarbeiter zählte! Damit lässt sich auch erklären wieso der Luxemburger eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der IRG spielen konnte, denn es dürfte wohl auf der Hand liegen, dass eine Verständigung der kontinentalen Eisenhütten niemals zustande gekommen wäre, wenn die mächtige Arbed außen vor geblieben wäre. Eine Beteiligung des Konzerns war aber keineswegs selbstverständlich. Mayrisch war nämlich ein Verfechter des reinen Manchesterkapitalismus. Statt der abgesprochenen Festlegung von Produktionsobergrenzen für Rohstahl – die er als „ökonomische Häresie” brandmarkte – hätte er die Bereinigung der Überschusskapazitäten lieber den Kräften der freien Markwirtschaft überlassen. Außenpolitische Überlegungen machten eine solche Lösung aber von vorneherein zunichte.
Aristide Briand und Gustave Stresemann suchten in der damaligen Zeit den Ausgleich zwischen ehemaligen Feinden dies- und jenseits des Rheins. Sie hätten die Gefährdung ihrer erst kürzlich in Locarno initiierten Entspannungspolitik durch den halsabschneiderischen Konkurrenzkampf in einem derart sensiblen Wirtschaftszweig wie der Stahlindustrie nicht zugelassen. Protektionistische Maßnahmen und ein daraus resultierender deutsch-französischer Zollkrieg konnten in der Tat keine Antwort auf die im Januar 1925 auslaufenden wirtschaftlichen Übergangsbestimmungen des Versailler Vertrags sein, da sie den grenzüberschreitenden Warenaustauch zum Erliegen gebracht und somit alle Bemühungen um friedfertige Beziehungen zunichte gemacht hätten. Dies zu verhindern lag auch ganz im Interesse der Arbed. Da die Firma ihre nahezu gesamte Produktion exportieren musste, zog ihr Generaldirektor es vor, seine ureigenen Überzeugungen zu überwinden. Nolens volens machte er sich die Idee der Ruhrmagnaten zu eigen, ein europäisches Stahlkartell einzurichten, das zwar auf eine Abschottung der jeweiligen nationalen Binnenmärkte aller Mitgliedsstaaten abzielte, dennoch den Vorteil bot, den Schmelzen des Saarlandes, Lothringens und des Großherzogtums einen privilegierten Zugang zum deutschen Markt unter gewissen Bedingen zu sichern. Mithin wurde eine Regulierung der internationalen Handelsströme durch die Regierungen überflüssig. Für Mayrisch erwies sich diese Ablösung staatlicher Lenkung durch private Abkommen unter Industriellen als echter Glücksfall: während die Arbed reichlich von den ihr günstig gestellten Kartellbestimmungen profitierte, und viel Geld verdiente, erlaubte die neue Geschäftsdiplomatie ihrem Generaldirektor den persönlichen Aufstieg zum vielgerühmten „Vermittler‟ unter den Völkern Europas.
Dieses Image haftet bis heute an dem Luxemburger Eisenbaron. Es ist zweifellos dem Umstand geschuldet, dass er mehrfach durch geschicktes Eingreifen die schwierigen Verhandlungen zwischen dem deutschen Stahlwerks-Verband und dem französischen Comité des forges vor dem völligen Stillstand bewahrte. Bestärkt durch seine Wahl zum ersten Präsidenten der Internationales Rohstahlgemeinschaft (September 1926) ist es überdies Ausdruck der Verwirrung die von Anfang an in der öffentlichen Meinung über den sog. Stahlpakt herrschte. Vielfach wurde das Abkommen unter Industriellen mit den Anfängen der Versöhnungspolitik zwischen Paris und Berlin vermischt, ja sogar mit dem frühen Anfängen der europäischen Vereinigung verwechselt. Niemand, weder die Regierungen noch die Stahlhersteller, bemühte sich um eine ehrliche Aufklärung der wahren Umstände. Ganz im Gegenteil. Inspiriert von dem literarischen Salon seiner Gattin Aline – seit Jahren lud sie Schriftsteller wie André Gide, Ernst Robert Curtius und viele andere regelmässig zum Gedankenaustausch auf Schloss Colpach ein – gründete Émile Mayrisch gemeinsam mit seinem Schwiegersohn Pierre Viénot das Deutsch-französische Studienkomitee, auch noch Komitee Mayrisch genannt. Ziel der Organisation war es, einflussreiche deutsche und französische Persönlichkeiten aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens zusammenzuführen und ein Klima des gegenseitigen Vertrauens aufzubauen.